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Chance auf Koexistenz oder "Früchte des 7. Oktobers"? Alles zur Anerkennung Palästinas
Aktualisiert:
von Michael ReimersIn Ramallah sitzt die Palästinensische Autonomiebehörde (Bild) - doch als Hauptstadt wünscht man sich Ost-Jerusalem.
Bild: IMAGO/Depositphotos
Immer mehr auch westliche Staaten erkennen Palästina an. Doch was bedeutet die Anerkennung eines palästinensischen Staates überhaupt? Ein Überblick unter Berücksichtigung der neusten Entwicklungen in Nahost.
Seit Jahrzehnten ist die Zweistaatenlösung in Nahost - eine friedliche Koexistenz der Staaten Israel und Palästina - das angestrebte Ziel eines Großteils der Weltgemeinschaft. Nach dem Massaker des 7. Oktobers 2023 durch palästinensische Terrorgruppen samt brutaler Geiselnahme und Israels rücksichtslosem Krieg im Gazastreifen, der laut Hilfsorganisationen in eine Hungerkrise mündete, schien das Ziel soweit entfernt wie noch nie.
Aus diesem Grund sah sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zum Handeln gedrängt: "Frieden ist möglich", schrieb er auf X. Er wolle einen souveränen Staat der Palästinenser:innen anerkennen, kündigte er vor schon langem an – und ließ am 22. September während der Konferenz zur Zweistaatenlösung in New York Taten folgen. "Manche mögen sagen, es sei zu spät. Andere mögen sagen, es sei zu früh", sagte Macron. "Doch eines ist sicher: Wir können nicht länger warten." Weitere westliche Länder folgten seinem Beispiel.
Am Montag (6. Oktober), kurz vor dem Jahrestag des Hamas-Massakers führen Unterhändler Israels und der islamistischen Hamas in Ägypten indirekte Gespräche über die Umsetzung des Gaza-Friedensplans von US-Präsident Donald Trump. Dabei soll es zunächst um die Freilassung der verbliebenen 48 Geiseln im Gegenzug für eine Waffenruhe im Gaza-Krieg und die Entlassung Hunderter palästinensischer Häftlinge gehen. Weitere Fragen, darunter die Entwaffnung der Hamas und ein israelischer Truppenrückzug aus dem Küstenstreifen, sind noch umstritten – für die Entwicklungen in Sachen Anerkennung jedoch grundlegend.
Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse im Nahen Osten stellt sich einmal mehr die Frage, was eine Anerkennung Palästinas überhaupt bedeutet - diplomatisch, politisch und nicht zuletzt symbolisch. Wie ist die Haltung weltweit zu einem Staat Palästina? Wie könnte dieser aussehen? Und wie positioniert sich Deutschland? Ein Überblick.
Welche Staaten haben Palästina zuletzt anerkannt?
Für die Palästinenser:innen dürfte der 21. September als ein historischer Tag in die Geschichte eingehen: Erst erkannte Kanada die Souveränität Palästinas an, dann folgten Australien und Großbritannien binnen weniger Stunden dem Beispiel des nordamerikanischen Staates. Am Abend zog schließlich auch Portugals konservative Regierung nach. Zuletzt gingen unter anderem auch Belgien, Malta, Luxemburg, das Fürstentum Monaco sowie San Marino diesen diplomatischen Schritt.
Das Besondere an diesen politischen Entscheidungen: Mit Frankreich, Großbritannien und Kanada erkennen erstmals drei G7-Staaten einen Palästinenser-Staat an. Nach dem Signal aus London und Paris haben inklusive Russland und China zudem vier der fünf UN-Vetomächte einen Staat Palästina anerkannt - einzig die USA nicht.
Kanadas Premierminister Mark Carney begründete den Schritt mit dem aggressiven Vorgehen des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu gegen einen palästinensischen Staat. Der Schritt seines Landes solle dazu beitragen, die Perspektive einer Zweistaatenlösung zu erhalten.
Der australische Premier Anthony Albanese teilte ebenfalls mit, dass die Anerkennung neuen Schwung für eine Zweistaatenlösung schaffen solle. Die Bedingung dafür: "Die Terrororganisation Hamas darf keine Rolle in Palästina spielen."
"Angesichts des wachsenden Schreckens im Nahen Osten handeln wir, um die Möglichkeit von Frieden und einer Zweistaatenlösung zu wahren", erläuterte hingegen Großbritanniens Regierungschef Keir Starmer. Die Anerkennung Palästinas solle dazu führen, dass ein lebensfähiger Palästinenser-Staat und ein sicheres Israel gemeinsam existieren können.
Der portugiesische Außenminister Paulo Rangel sprach von einem "breiten Konsens" im Parlament in dieser Frage. Auch er machte deutlich, dass die Zweistaatenlösung der einzige Weg zum Frieden in der Region sei.
Welche Forderungen wurden gestellt?
Mit der Ankündigung einer Anerkennung soll der Druck auf Israel erhöht werden, den Krieg im Gazastreifen zu beenden - doch auch an die palästinensische Seite werden klare Bedingungen gestellt, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtete. Macron betonte in seinem Post, dass ein Kriegsende dringend notwendig sei und der palästinensischen Zivilbevölkerung Hilfe geleistet werden müsse. Außerdem müssten alle israelischen Geiseln freigelassen werden und die Entmilitarisierung der Hamas gesichert werden, betonte der französische Präsident. Diese Forderungen finden sich auch in Trumps Friedensplan wieder.
Der britische Premier Keir Starmer forderte die israelische Regierung auf, die "entsetzliche Situation im Gazastreifen" zu beenden und sich zu einem langfristigen, nachhaltigen Frieden zu bekennen. Zu diesen Schritten zähle unter anderem, den Vereinten Nationen zu gestatten, die Versorgung der Bevölkerung im Gazastreifen mit humanitärer Hilfe zur Beendigung des Hungers unverzüglich wiederaufzunehmen, hieß es in einer Mitteilung aus der Downing Street. Außerdem müsse Israel einer Waffenruhe zustimmen und klarstellen, dass es keine Annexionen im Westjordanland geben werde.
Allerdings sagte Premier Starmer in einer Kabinettssitzung auch, dass die Forderungen an die islamistische Hamas bestehen blieben: Die Hamas müsse alle Geiseln freilassen, ebenfalls einer Waffenruhe zustimmen, akzeptieren, dass sie keine Rolle beim Regieren des Gazastreifens spielen werde und ihre Waffen niederlegen.
Fakt ist: Der Deal ist noch nicht durch, die Geiseln sind bislang nicht frei - vor zwei Monaten veröffentlichten die Islamisten ein Video mit abgemagerten und gedemütigten Israelis - und die Hamas hatte nach eigenen Angaben die Niederlegung der Waffen an einen vollständig souveränen Palästinenserstaat geknüpft. Hauptstadt solle das umkämpfte Jerusalem sein, das auch Israel als Hauptstadt beansprucht. Angesichts der fortlaufenden israelischen Angriffe auf den Gazastreifen sind aktuell auch die Forderungen an Israel nicht erfüllt.
Welche Folgen hätte eine Anerkennung?
Der "Deutschlandfunk" berichet, eine Anerkennung Palästinas hätte aus völkerrechtlicher Sicht keine Auswirkungen. ZDF-Recherchen zufolge erhalten die Palästinensergebiete nicht mehr Geld oder weitreichendere Gebietsansprüche. Somit lässt sich eine Anerkennung als symbolischen Akt bewerten. Dieser könnte aber durchaus konkrete Folgen haben und eine Dynamik lostreten.
Wie fallen die Reaktionen Israels aus?
Neben der rechtsreligiösen Regierung Israels lehnt auch Oppositionsführer Jair Lapid Macrons Vorstoß entschieden ab. Regierungschef Benjamin Netanjahu sieht darin gar eine "Belohnung" für den Terror der Hamas. Zudem riskiere dies die Schaffung eines iranischen Stellvertreterstaats, wie es der Gazastreifen unter der Hamas geworden sei. "Ein palästinensischer Staat unter diesen Bedingungen wäre eine Startrampe zur Vernichtung Israels."
Israels Außenminister Gideon Saar reagierte auf der Plattform X. "Ein palästinensischer Staat wird ein Hamas-Staat sein." Sollte die Terrororganisation durch die laufenden Verhandlungen tatsächlich entmachtet und entwaffnet werden, würde das die Situation möglicherweise verändern.
Wie reagiert die Terrororganisation Hamas?
"Wir betrachten dies als einen positiven Schritt in die richtige Richtung, um unserem unterdrückten palästinensischen Volk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und sein legitimes Recht auf Selbstbestimmung zu unterstützen", teilte die Hamas mit Blick auf Macrons Schritt mit - und rief weitere Länder auf, dem Beispiel Frankreichs zu folgen.
Längst hat ein Kampf um die Deutungshoheit der geplanten Anerkennung begonnen. Wie die "Times of Israel" berichtet, hat Ghazi Hamad, ein hochrangiges Mitglied des Hamas-Politbüros, den diplomatischen Zug gegenüber "Al Jazeera" als "Früchte des 7. Oktobers" bezeichnet. Der Hamas-Überfall hätte dafür gesorgt, "dass die ganze Welt ihre Augen für die palästinensische Frage geöffnet hat", so Hamad. Nun bewege die sich mit Nachdruck auf dieses Ziel zu. "Das heißt, dass das palästinensische Volk ein Volk ist, das ein Land verdient." In einem Ende September veröffentlichten Interview mit CNN erklärte Hamad dann, die Islamisten würden "niemals kapitulieren".
Was sagt die Palästinensische Autonomiebehörde?
Die Palästinensische Autonomieverwaltung (PA) hatte Macrons Ankündigung, Palästina als Staat anerkennen zu wollen, begrüßt. Dies bestätige, dass sich Frankreich dem internationalen Recht verpflichtet fühle, sagte PA-Vizepräsident Hussein al-Scheich nach Angaben der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa. Paris unterstütze damit das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und auf einen eigenen Staat, fügte er hinzu.
Wie steht Deutschland zu einer Anerkennung?
Für Deutschland ist eine Anerkennung Palästinas aktuell keine Option. Trotz des neuen Palästina-Kurses zahlreicher Regierungen beharrt Berlin auf seiner Position. "Wir haben eine andere Beurteilung des Sachverhalts. Wir haben vielleicht, wenn man so sagen will, eine andere Haltung in diesem Sachverhalt", sagte der stellvertretende Regierungssprecher Sebastian Hille. Außenminister Johann Wadephul drängt auf die Freilassung der Geiseln sowie ein Ende des Gaza-Kriegs und warnt vor einer Isolation Israels.
Deutschland fühlt sich vor dem Hintergrund des Holocausts dem Existenzrecht Israels in besonderer Weise verpflichtet. Es erkennt aber gleichzeitig an, dass die Palästinenser:innen auf der Grundlage des in der Charta der Vereinten Nationen verbrieften Selbstbestimmungsrecht der Völker einen eigenen Staat für sich in Anspruch nehmen.
Welche Länder haben Palästina (nicht) anerkannt?
Etwa 150 der 193 UN-Mitgliedstaaten haben Palästina mittlerweile bereits als Staat anerkannt. Hierzu zählt der Großteil der Staaten in Lateinamerika, Afrika und Asien, unter anderem auch China und Russland. Eine außereuropäische Ausnahme stellt Japan dar, Tokio erkennt den möglichen Staat bislang nicht an.
Einflussreiche westliche Länder wie UN-Vetomacht USA gehören ebenfalls nicht dazu. Bereits im vergangenen Jahr waren mit den EU-Staaten Spanien, Irland und Slowenien sowie Norwegen bereits diesen Schritt gegangen. Neben Deutschland wird Palästina nach aktuellem Stand auch von Österreich und der Schweiz, Italien, Griechenland und Finnland nicht anerkannt.
Wie sähe ein palästinensischer Staat aus?
Wahrscheinlich bestünde ein souveränes Palästina aus zwei Teilen: dem Westjordanland, aktuell unter der Fatah vom Chef der Autonomiebehörde Mahmud Abbas, sowie dem Gazastreifen, der bislang von der Hamas kontrolliert wurde. Problematisch bleibt, dass die Grenzen zwischen Israel und den Palästinensergebieten nicht abschließend geklärt sind - ebenso wie der Status von Ost-Jerusalem.
Zudem sind Hamas und Fatah untereinander verfeindet, die Frage nach dem entsprechenden Ansprechpartner wäre auch nach einem Niederlegen der Waffen durch die Terrororganisation nicht vollständig geklärt.
Fast zwei Jahrzehnte ist die Wahl von Abbas mittlerweile her, die Autonomiebehörde wird von vielen Palästinenser:innen kritisch gesehen. Die Hamas ist als islamistische Terrororganisation weder für Israel noch für andere wichtige Nationen ein akzeptabler Verhandlungspartner - und durch den Gazakrieg obendrein geschwächt, wie der "Deutschlandfunk" berichtet.
Warum wird die Zweistaatenlösung teils abgelehnt?
Israels Regierung positioniert sich laut Deutscher Presse-Agentur gegen die Zweistaatenlösung, weil in ihr die Ansicht vorherrscht, dass das besetzte Westjordanland und Ost-Jerusalem aus historischen und religiösen Gründen Israel zustehen und von Jüdinnen und Juden bewohnt werden sollen.
Bei nicht religiösen Israelis überwiegen Sicherheitsbedenken: Ein palästinensischer Staat, der in der Mitte Jerusalems beginnt und an manchen Stellen recht nah an die Metropolen Tel Aviv und Haifa heranreicht, gilt aus ihrer Sicht als ein inakzeptables militärisches Risiko.
Auch die Hamas lehnt eine Zweistaatenlösung ab. Sie beansprucht langfristig das gesamte historische Palästina - also einschließlich des heutigen Staatsgebietes Israels - für einen künftigen palästinensischen Staat. In einem Grundsatzpapier aus dem Jahr 2017 akzeptiert sie einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 - das heißt bestehend aus dem Westjordanland, dem Gazastreifen und Ost-Jerusalem - als "Zwischenschritt", erkennt aber auch dabei das Existenzrecht Israels nicht explizit an.
Was macht ein Gebiet zum Staat?
Juristisch wird ein Staat über drei Elemente definiert: Staatsvolk, Staatsterritorium und Staatsgewalt. Diese Kriterien greift auch die völkerrechtliche Montevideo-Konvention von 1933 auf. Demnach muss ein Staat eine ständige Bevölkerung, ein Staatsgebiet, eine Regierung und die Fähigkeit zu Beziehungen mit anderen Staaten haben. Die Anerkennung durch andere Staaten gilt hingegen als nicht notwendig. Inwieweit die palästinensischen Gebiete diese Kriterien erfüllen, wird schon lange kontrovers diskutiert. Die Diskussionen werden anhalten.
Verwendete Quellen
The Times of Israel: "Hamas leader: Nations are recognizing Palestinian state due to 'fruits of October 7'"
Nachrichtenagentur dpa
Deutschlandfunk: "Was die Anerkennung Palästinas bedeutet"
NTV: "Hamas lobt Macron - 'Schritt in richtige Richtung'"
ZDF: Staat Palästina: Was die Anerkennung bedeutet
Zeit: "Welche Länder Palästina als Staat anerkennen"
Jüdische Allgemeine: "Hamas: Ohne Staat Palästina kein Ende der Kämpfe"
WAFA: "San Marino officially recognizes State of Palestine"
CNN: Senior Hamas official defends 'high price' of Oct 7 for Palestinians, saying attack created 'golden moment'
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