Uneinigkeit im ZDF-Talk

Debatte über Cancel Culture bei Lanz: "Aufpassen, wen wir Nazi nennen"

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von Hellmut Blumenthal

Richard David Precht plädiert dafür, mit Zuschreibungen wie "Rassist" vorsichtig zu sein.

Bild: ZDF / Cornelia Lehmann


Wie steht es um die Meinungsfreiheit in Deutschland? Sind wir zu empfindlich geworden? Wie bekommen wir eine bessere Debattenkultur hin? Darüber diskutierten Markus Lanz und seine Gäste am Donnerstagabend (27. November).

"Durch die Debatte über Meinungsfreiheit vergessen wir, wofür Deutschland eigentlich stehen sollte: Für Sachlichkeit und einen lösungsorientierten Diskurs." Die Autorin Jagoda Marinić wünscht sich für unsere Gesellschaft mehr Resilienz. Neben der Schriftstellerin hatte Markus Lanz am Donnerstagabend (27. November) auch den Philosophen Richard David Precht, die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf und die Journalistin Annett Meiritz zu Gast.

Mehrheit glaubt, sich nicht frei äußern zu können

Dass wir ein Thema mit Meinungsfreiheit haben, lässt sich indes nicht wegdiskutieren. "Nur noch 46 Prozent der Menschen in Deutschland glauben, dass sie ihre Meinung wirklich frei äußern können", so der Gastgeber zum Einstieg der Talkrunde im ZDF. Dass uns als Gesellschaft ein bisschen mehr Robustheit guttäte, darüber war sich die Runde dabei einig. Es sei gut, dass die Menschen heute sensibler seien, sagte etwa Richard David Precht. Zu viel Empfindlichkeit führe aber nur zu voreiliger Empörung und "fallbeilartigen Urteilen".

Als Jagoda Marinić über den Umgang mit der Aufgeregtheit sprach, wurde es jedoch unruhig. "Jeder, der hier sitzt, hat schon Shitstorms erlebt." Die Einstellung, "Shitstorms gehörten im digitalen Zeitalter ein Stück weit dazu", könne uns wieder zu mehr Sachlichkeit führen.

Brosius-Gersdorf: "Wandel der Debattenkultur"

Das wollte die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf so nicht stehen lassen. "Da würde ich wirklich widersprechen", sagte sie. Die Meinungsfreiheit sei rechtlich gewährleistet, "genauso aber das Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde-Garantie". Und weiter: "Was wir momentan erleben, ist ein völliger Wandel der Debattenkultur."

Heute könne sich jede:r im Internet massenmedial - und anonym - äußern. Das habe zweifellos auch Vorteile. Die Nachteile seien, "dass Hass und Hetze enorm zugenommen haben". Brosius-Gersdorf teile die Meinung, dass wir als Gesellschaft resilienter auftreten sollten, "aber nur gegenüber zulässigen Meinungen, nicht gegenüber Shitstorms". Dabei gehe es nicht nur um Straftatbestände wie Beleidigung, sondern auch um unwahre Tatsachenbehauptungen und Schmähkritik. "Die leisten keinen Beitrag zu unserer Demokratie."

"Sie entscheiden nicht, wer sich verletzt fühlt"

Kontrovers wurde es beim Thema Cancel Culture. Richard David Precht kritisierte eine zu geringe Vielfalt im Kulturbereich. "Das verminteste Terrain, das wir momentan in der Kultur haben, ist das Kinderbuch", sagte der Philosoph. Würde man etwa ein Buch schreiben, in dem keine starke Frau vorkomme, sondern nur starke Jungs, "dann haben Sie ein Problem, dass das verlegt wird". Darauf Marinić: "Nein, nein, nein!" - Precht: "Doch, doch, doch, ganz sicher!"

Als es im weiteren Verlauf um die "Winnetou"-Bücher von Karl May ging, deren Neuauflage der Ravensburger Verlag nach öffentlicher Kritik wieder zurückgezogen hatte, bemerkte Precht, dass sich wohl kein einziger "Native American" beschwert hätte. Die Autorin konterte: "Aber Sie entscheiden ja jetzt auch nicht, wer sich verletzt fühlt, sondern die Menschen."


Stadtbild: Precht verteidigt Merz

Als es um die Unsitte ging, Andersdenkende reflexartig moralisch herabzuwürdigen, herrschte hingegen wieder weitgehend Einigkeit. Dass Bundeskanzler Friedrich Merz in der Stadtbild-Debatte als Rassist bezeichnet worden war, war Precht ein Dorn im Auge. "Wenn wir mit dem Begriff Rassist so leichtfertig umgehen, dann nehmen wir langfristig dem Begriff Rassist seine Bedeutung." Die Juristin Brosius-Gersdorf pflichtete dem Philosophen bei und erwähnte dabei eine ähnlich häufig genutzte Zuschreibung. "Wir müssen unheimlich aufpassen, wen wir als Nazi bezeichnen. Das ist eine Verharmlosung des NS-Unrechts."

Marinić: "Pluralität ertragen"

Schwierig werde es auch, wenn es selbst im eigenen Umfeld Selbstzensur gäbe, so Markus Lanz und seine Gäste. Die Journalistin Annett Meiritz gestand in diesem Zusammenhang, dass sie sich bei der Stadtbild-Debatte von Kanzler Merz durchaus abgeholt gefühlt habe. Sie habe aber vermieden, das in ihrem Bekanntenkreis zu thematisieren. "Wovor hatten Sie Angst?", fragte Markus Lanz nach. "Vor der Reaktion der eigenen Blase", erklärte sie. Mittlerweile erwarte sie nicht, dass jemand nachfrage, sondern dass sie sofort in einer Schublade landen würde.

Dass es durchaus Anlass zu Optimismus gebe, befand Jagoda Marinić am Ende. "Wir sind gerade in einer Phase, in der wir lernen, die Pluralität zu ertragen." Auch Gastgeber Markus Lanz erklärte, er habe zuletzt eine Besserung wahrgenommen, was Meinungsfreiheit und Debattenkultur betrifft.

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