"Die 100 - Was Deutschland bewegt"

"Das ist grausam": Jimmy Hartwig berichtet bei "Die 100" von rassistischen Erfahrungen und schwerer Kindheit

Aktualisiert:

von Doris Neubauer

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Ex-Nationalspieler wurde als Kind misshandelt

Videoclip • 01:04 Min • Ab 12


Rassistische Sprüche und Schläge vom Nazi-Opa: Als der Fußballstar in der ARD-Sendung "Die 100" von seiner Vergangenheit berichtete, war er den Tränen nahe. Und nicht nur er kämpfte beim Thema "Gendern, Schnitzel, Minderheitenschutz - ist Deutschland zu 'woke'?" mit den Emotionen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Ex-Fußballprofi Jimmy Hartwig berichtete bei "Die 100 - Was Deutschland bewegt" von rassistischen Erfahrungen im Stadion und von seiner Kindheit.

  • Journalist Ralph Caspers hatte Hartwig eingeladen, um in der Diskussion um Wokeness zu zeigen, dass diese Minderheiten schützt.

  • Am Ende der Sendung positionierten sich mehr Leute gegen die Aussage, Deutschland sei zu "woke" als am Anfang.

Auch nach 43 Jahren lässt Ex-Nationalspieler Jimmy Hartwig ein Erlebnis sichtlich nicht los. Als er sich an den 4:3 Sieg seines HSV gegen den FC Bayern München im Jahr 1982 zurückerinnerte, kamen ihm bei "Die 100 - Was Deutschland bewegt" die Tränen: Damals hätten ihm die Fans im Stadion das N-Wort zugerufen, berichtete er. So hätte er als "traurigster Dirigent" den "dümmsten Chor der Welt dirigiert", erinnerte er sich. "Das war schlimm. Das ist schlimm. Das ist grausam. Es ist grausam, wenn ein Mensch, nur weil er ein bisschen anders aussieht, beleidigt wird", so Hartwig.

Das passiere bis heute, berichtete der ehemalige Fußballprofi und erzählte von einem Moment, der in der jüngeren Vergangenheit liegt: "Ich sitze im Stadion bei HSV gegen Augsburg. Es gab einen dunkelhäutigen Spieler. Dann sagt ein Zuschauer hinter mir: 'Schau mal, Jimmy, der ist ja viel schwärzer als du'", berichtete Hartwig, "Was ist das für ein Idiot? Was hat das mit der Hautfarbe zu tun? Schwärzer als ich? Was ist denn das für ein Bullshit?"

"Respekt, Augenhöhe und mit seinem Mitmenschen so umgehen, wie er es verdient"

Generell sei es schwer gewesen, als schwarzes Kind in Deutschland aufzuwachsen. "Das Beste, was ich gehabt habe, war meine Mutter, die mich unterstützt hat", meinte er. Sein Großvater hingegen sei ein "bekennender verfluchter Nazi gewesen, und ich leide heute noch unter den Schlägen. Mit 71 Jahren merke ich die Schläge, die ich mein ganzes Leben lang bekommen habe."

Das Schlimmste sei aber gewesen, dass keiner versucht habe, ihn zu verstehen: "Warum ist der Jimmy Hartwig so, wie er ist? Wieso hat Jimmy Hartwig eine große Klappe? Weil ich eine große Klappe habe, um mich verbal zu verteidigen. Und nicht mit Gewalt, weil Gewalt bringt nichts."

Diese Botschaft wollte er auch dem ARD-Publikum im Studio und vor den Bildschirmen mitgeben: "Das Wichtigste ist: Respekt, Augenhöhe und mit seinem Mitmenschen so umzugehen, wie er es verdient. Das ist Weihnachten."

"Das kann einen nicht kalt lassen", brachte Journalist Ralph Caspers den Auftritt auf den Punkt. Er hatte Hartwig eingeladen, um sein erstes Argument zu untermauern: "Wokeness schützt Minderheiten", meinte er, und zitierte aus dem Duden: "Woke heißt in hohem Maße politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung."


Cancel Culture: Wer cancelt wen?

Dass es daran in der Bundesrepublik noch hapere, davon sollte er die 100 Menschen überzeugen, die sich aus allen Regionen Deutschlands im Studio versammelt hatten. Journalistin Linda Zervakis hingegen war angetreten, um das Gegenteil zu beweisen: Woke-Regeln, aber auch Begrifflichkeiten wie Cis-Mann, Akronyme wie FLINTA (Anm.: Frauen, Lesben, Inter-Personen, Nicht-binäre, Trans Personen und Agender) oder das Neo-Pronomen ens, das ein geschlechtsneutraler Ersatz für sie und er sei, seien zu kompliziert. "Die meisten Erwachsenen haben keine Lust, sich weiter erziehen zu lassen - das Leben ist kein Uni-Seminar", argumentierte sie.

"Uni-Seminar ist genau der Begriff, auf den ich gewartet habe", freute sich ein Dozent für Elektronische Datenverarbeitung im Publikum. "Zu meiner Zeit durfte man über jedes Thema sprechen." Da habe es weder Cancel Culture gegeben, noch seien Menschen ausgeladen worden, bevor sie ihre Meinung kund getan hätten. Doch "seit 10 - 5 Jahren gibt es eine kleine Gruppe, die weiß, was richtig ist und verhindert den essentiellen Diskurs über Inhalte. Es wird uns diktiert, was letztlich als Inhalt erlaubt ist und was verboten." Er griff damit einem weiteren Argument von Zervakis vor: "Woke sein heißt für manche, andere an den Pranger stellen", kritisierte sie die "Meinungspolizei".

"Das sagt sich so leicht", konterte Caspers mit Bildern von "Markus Döner mit Söder, ähm, umgekehrt Markus Söder mit Döner, Bratwurst, Weißwurst". Auch die Diskussion um das Veggie-Schnitzel im EU-Parlament oder das Genderverbot in Bayern zeigten: "Veggie-Würste, Regenbogenfahne - all das macht den Populisten echt Angst und Probleme und deshalb würden sie es am liebsten verbieten. Die Kritiker der Cancel Culture canceln alles selbst", meinte er.

"Woke"-Gegner verlieren Mehrheit

Dabei ginge alles viel einfacher: "Was spricht dagegen, für umsonst ein bisschen nett zu sein?", durfte Caspers das letzte Argument bringen. Das bedeute: "Gib dir Mühe, niemanden zu verletzen, sei kein Arschloch. Das kann heißen: Benutze nicht Worte, die andere als Beleidigung oder Verletzung empfinden. Das ist nicht so schwer" - könnte das wohl auch eine Botschaft an die Fans im Fußballstadion sein, an die Jimmy Hartwig sich noch so gut erinnert.

Bei den 100 scheinen die Argumente angekommen zu sein: Hatten zu Beginn 48 Prozent Deutschland als zu "woke" empfunden und 46 Prozent dem widersprochen, glaubten am Ende der Sendung nur noch 34 Prozent, die Bundesrepublik sei übertrieben "woke", während sich die Mehrheit von 49 Prozent gegen diese Aussage positionierte. Anfangs hätte sie das Gefühl gehabt, dass hier etwas aufgedrückt würde, stellte eine Sachbearbeiterin fest: "Jetzt ist mir aufgefallen, dass niemand dazu gezwungen wird."

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